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Die Giggelchemo | mein Beitrag zum Literaturwettbewerb


DIE GIGGELCHEMO

Hundertdrölf Postkarten von teils wildfremden Menschen haben mir die Chemotherapie erleichtert

Ich war mit einer Befürchtung gekommen und verließ das Untersuchungszimmer mit Schwermut  – und einer Gewissheit. Als mich die Nachricht traf, war ich dennoch erstaunlich gefasst.

„Die Ergebnisse sprechen dafür, dass wieder Ihr Bauchfell betroffen ist.“, sprach die Ärztin mit sanfter Stimme: „Sie müssen ab jetzt damit rechnen, in den nächsten Jahren immer mal wieder eine Chemo zu brauchen.“ Sie lächelte mich fürsorglich an. Eine tröstliche Geste, die aber nicht tröstete. Wir saßen eine Weile da und erlaubten dem Gefühl, sich zu setzen. Ich spürte, wie Hildegard – so nenne ich meine Angst – auf meiner Schulter frohlockte. Kein besonders guter Tag für meinen jüngst zurückeroberten Optimismus.

„The return of the Schnieptröte“ hatte sich langsam aber sicher durch steigende Tumormarker angekündigt. „Schnieptröte“, so hatte ich mein Ovarialkarzinom getauft. „Doofmannsgehilfen“ deren Absiedelungen in benachbarten Organen. Fiese Begriffe aus der „Krebsszene“ umzutaufen ist inzwischen eine kleine Obsession von mir. Gut ein Jahr zuvor war ich nach der Erstdiagnose in einer Acht-Stunden-OP entkernt worden: Goodbye Eierstöcke, Tschüss Milz, Adieu Darmstück, Farvel Bauchnetz, Ciao 49 Lymphknoten.

Nun waren sie also wieder zurück: ovariale Mietnomaden.

In meinem Unterstübchen verlustierte sich erneut ein unerwünschter Mutantenstadel, der da definitiv nicht hingehörte. Da sich dieser mangels vorhandener Eierstöcke eine neue Chillout-Zone gesucht hatte – und zwar in meinem Bauchfell – taufte ich sie kurzerhand „Familie Bauchfellfloh“, um dem Rückfall den scharfen Stachel zu ziehen. Ich hatte dabei unfreiwillig folgendes Bild vor Augen: Flohkati und Flohrian, die Anführer der Bande, lagern – genüsslich Chips fressend – in meinem Bauchfell, gucken Ovarial-TV, lieben sich, machen kleine Babys, die sich ebenfalls schon bald Chips fressend mit hedonistischem Fleiß ihrer Vermehrung hingeben. Tagein. Tagaus. Wie die Karnickel, nur nicht so niedlich.

Langsam aber sicher stieg die Kurve der Angst siedend heiß nach oben. Wie gut, dass im Wartezimmer ein Freund auf mich wartete. Der Sorgenknoten in meinem Bauch lockerte sich etwas, während wir im Café gegenüber bei einem Stück Erdbeerkuchen das Ergebnis besprachen. Und schon wenige Stunden später war ich von einem gewissen Kampfgeist und Trotz durchflutet.
Nicht mit mir!

Zeit für eine Räumungsklage unter Einsatz entsprechender Hilfsmittel. Mein Onkologe sollte erneut als ExorzistSchädlingsbekämpfer fungieren. Am 16. Mai 2017 beginnt also meine nächste Therapie. Wie soll ich dieses „Healing Festival“ der Superlative nur erneut überstehen? Hatte ich doch schon während des ersten Budenzaubers so meine Schwierigkeiten, mich aus Müdigkeit, Antriebslosigkeit und depressiver Verdunkelung rauszuholen und wollte das am liebsten nicht schon wieder erleben. Energieverlust ist schließlich etwas, das selten umarmt wird. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich lustlos und bedrückt durch die Tage kämpfte.

Lesen? Null Konzentration.
Serien gucken? Keine Lust.
Jemanden treffen? Bloß nicht.
Facebook? Mag gerade nicht.
Schlafen? Klappt nicht.
Gassi gehen? Will nicht.
Essen und Trinken? Schmeckt nicht.

Wie ein träges Insekt saß ich tagelang auf dem Sofa herum und verbrachte die Stunden in einem watteartigen Zustand, denn ich „vor mich hindoofen“ nannte. Ein idealer Nährboden für trübe Gedanken. Nachdem diese Zeit endlich vorüber war, habe ich erstmal das komplette Wohnzimmer umgeräumt, um bloß nicht mehr daran erinnert zu werden.

Ich bin willens, mir irgendetwas einfallen zu lassen, um meine Psyche nicht schon wieder dem freien Fall zu überlassen, sondern diesmal besser durch diese Zeit zu kommen. Mir kommt eine Idee: Ich suche mir Verbündete, die mir eine kleine Aufgabe stellen sollten, um mich vor dem Chemo-Blues zu schützen.

Ich schreibe also einige Wochen vor dem Start meiner nächsten Chemotherapie einen Blogartikel, in dem ich meine LeserInnen dazu aufrufe, mir kleine Aufgaben zu stellen, die sie mir auf eine möglichst lustige Postkarte schreiben und zuschicken sollen. Da ich auch auf Social Media zu finden bin, wird besagter Blogartikel auch dort in Umlauf gebracht und sogar mehrfach in fremden Newslettern geteilt.

Und zack, verselbstständigt sich die ganze Aktion auch schon.

Auf Twitter wird sogar ein Hashtag gefunden: #giggelchemo

Täglich kichern fangfrische Postkarten in meinem Briefkasten. Manchmal nur vereinzelte, manchmal ein ganzes Rudel. Im Laufe der folgenden Wochen kommen nicht nur 180 – oh nein – sondern rund 350 Postkarten an! Viele der Absender kenne ich gar nicht, den Großteil nur virtuell und einige wenige persönlich. Ich gebe zu, dass ich eine große Freude über die vielen Zeichen liebevoller Fürsorge empfinde und dadurch mächtig Glückshormone freigesetzt werden. Zusätzlich zu den Postkarten werden mir auch kleine Päckchen mit Materialien geschickt, mit deren Hilfe die gestellten Aufgaben zu lösen sind. Manche übertreffen sich sogar mit ihren liebevoll gebastelten Kunstwerken selbst. Es sind auch viele Leute dabei, die mir mehrfach Postkarten zuschicken.

Bevor also meine ChemoSchorle beginnt, habe ich eine prächtige Auswahl an Aufgaben in meinem Köfferchen. Ihre Gegenwart empfinde ich als einen Farbtupfer mitten in einem schwarz-weißen Ausnahmezustand. Je näher die Schorle rückt, desto öfter spüre ein leises HipHip Hurra in mir aufsteigen. Ein Anteil in mir freut sich darauf, dass es endlich mit den Aufgaben los geht. Und den unliebsamen Mitbewohnern will ich ja auch endlich den Stuhl vor die Tür stellen.

Hier die Spielregeln, die ich mir selbst auferlege:

  • Jeden Tag ziehe ich drei Postkarten, entweder auf einmal oder über den Tag verteilt.
  • Mindestens eine der drei Aufgaben erledige ich an dem Tag.
  • Wenn ich gut genug drauf bin, poste ich das Ergebnis auf Facebook, Twitter oder Instagram.

Soweit die sehr ambitionierte Theorie. In der weniger ambitionierten Praxis bin ich dann doch etwas kulanter mit mir. Wenn keine der drei Aufgaben für mich machbar ist, nehme ich es hin. Auch gibt es Tage, an denen ich keine einzige Aufgabe löse, weil ich einfach nur schlafen will. An manchen Tagen bin ich mitteilungsfreudig, an anderen gar nicht. Alles darf sein, wie es gerade ist.

Da ich unmöglich eine gescheite Auswahl aus 350 Postkarten treffen kann, entscheide ich mich für diese hier. Insider*Innen unter euch wissen bestimmt, wer mir diese Postkarte geschickt hat.

Hier eine kleine Auswahl von Aufgaben, die mir gestellt werden:

  • Male deine Lippen knallrot an und drücke deinem Mann einen Schmatzer ins Gesicht.
  • Mache heute fünf Dinge, die du sonst mit der rechten Hand machst, mit der linken.
  • Setze dich eine Stunde auf diese Postkarte.
  • Mach einen Schneeengel, auch wenn kein Schnee da ist.
  • Besorge dir Seifenblasen. Puste und staune.
  • Tippe „Mandala“ bei Google ein, suche dir unter „Bilder“ das zweite Mandala, drucke es aus und mal es schön bunt aus.
  • Lass deine Augen dort schweifen, wo du gerade bist und mach ein Foto von einem besonderen Detail. Versende es an eine liebe Person, um dieser eine Freude zu machen.
  • Schreibe eine Woche jeden Abend den schönsten Moment des Tages auf eine Karte und stelle sie an eine schöne Stelle.
  • Mache einen kleinen Spaziergang und grüße jede Biene oder Hummel mit Namen.
  • Lasse Ballons steigen, wenn auch nur mental, und binde an jeden eine kleine Sorge und lass sie davon fliegen.
  • Geh zu einer Eisdiele und bestelle dort eine Kugel Eis mit einer Sorte, die du noch nie gegessen hast. Dann bezahle direkt für den nächsten Kunden mit, aber heimlich. Schau, wie er sich freut.
  • Schau dir auf YouTube Katzenvideos an, wie sie auf Staubsaugern herumfahren und zeichne anschließend eine hypnotisierte Katze.
  • Kaufe zwei Packungen HubbaBubba und suche dir einen Mitstreiter. Jeder von euch bekommt eine Packung und zerkaut alle (!!!) gleichzeitig. Wer die größere Blase macht, gewinnt. Beweisfoto erwünscht.
  • Heute darfst du nach Herzenslust schimpfen auf all die Ungerechtigkeiten dieser Welt. Kriegen wir ein Best of-Schimpfwörter per Twitter?
  • Suche ein Portrait-Foto von dir aus und verziere es mit Bart und Brille. Hänge es dir für drei Tage an den Badezimmerspiegel.
  • Klebe dir ein Areal auf dem Fußboden ab, in einer Größe, die für dich gut ist. Stelle symbolisch alles, was dich nervt, in dieses Areal.
  • Schreib mir doch mal eine lustige Postkarte.
  • Schicke mir eine kurze Mail mit dem Betreff: „Lieblingswitz“ Dann bekommst du von mir zwei bis drei Witzehighlights per Mail.
  • Bitte schick mir ein Selfie von dir, auf dem du eine Grimasse schneidest.
  • Such dir bitte aus meinen Instagram-Fotos das Foto aus, wo du gern nach deiner Chemo mit mir hinfahren willst.
  • Heute darfst du dich an umseitigem halbnackten Mann austoben. Wie du auf der Karte siehst, ist er nicht vollständig tätowiert. Das kannst du ändern. Das Ergebnis kannst du, wenn du magst, auf Facebook mit uns teilen.
  • Finde jemanden, der sich mit deinem Haarausfall solidarisiert, indem er die für dich mitgeschickt Perücke und Bart anzieht. Und mach bitte in Foto für uns!

Es sind auch gewisse Häufungen in Sachen kulinarischer Leckereien zu finden, die – wenn ich alle diese Aufgaben umsetze – dazu führen, dass ich mir mehr als 20 Kuchenstücke, 30 Schokoladentafeln nebst 15 Tassen Tee einverleibe. Auch schaue ich mir mir viele fröhliche Musikstücke und Filmchen auf YouTube an, zu einigen soll ich sogar tanzen, was ich – meistens – auch tue.

Welche Aufgaben sind für mich besonders wertvoll?

  • Alle, die mich nicht überfordern. Ein zweistündiger Spaziergang ist zu groß, einmal um den Block zu schwanken, ist schon eher möglich.
  • Ich mag am liebsten solche, die mich lachen, kichern oder zumindest grinsen lassen. Denn Humor hilft mir über so vieles hinweg – immer wieder.
  • Besonders schön finde ich Postkarten mit Cartoons, putzigen Tieren oder frech-doofen Sprüchen drauf. Auch finde ich es herrlich, etwas für andere tun zu können: in einem Blog einen Kommentar zu hinterlassen, einem lieben Menschen zu sagen, dass ich ihn toll finde, anderen eine Blume zu schenken, meinen Mann zu erschrecken :o)

Da meine Therapie aufgrund schwankender Blutwerte noch gut 30 Tage länger dauert, bin ich froh, aus dem Vollen schöpfen zu können. Tatsächlich schaffe ich gar nicht alle Aufgaben, was aber nicht schlimm ist. Ab und zu wühle ich wieder in den Postkarten, freue mich und picke mir eine schöne Aufgabe heraus. Sie dienen mir auch als wunderbare Anregungen, wenn ich Mitpatienten erheitern möchte.

Mein Fazit:
Ich hatte während der Chemozeit jeden Tag etwas, auf das ich mich freuen konnte. Jede einzelne Postkarte war für mich pures „Glückspeng“, mein Ausdruck für kleine Glücksmomente, bei denen ich den Funken der Freude auch körperlich spüre.Jede Postkarte bedeutete ungeheuren Trost in einer misslichen Lage und brachte mir ein Stück verloren geglaubter Heiterkeit zurück.Ich wurde seelisch und sogar körperlich aufgepäppelt. Auch hatte ich jede Menge Bezugspunkte für Gespräche. Ich lernte neue Dinge kennen, durfte lachen und konnte manches davon sogar meinen Mitpatienten weitergeben.

Auch die AbsenderInnen hatten etwas davon: Zum einen konnten sie einen kleinen Betrag zu meiner Genesung leisten und zum anderen waren sie gespannt, ob und wann ich ihre Aufgaben lösen würde. Dass ich selber diesen Aufruf gestartet habe, hat auch meine Selbstwirksamkeit erhöht, was wiederum meine Resilienz förderte: Nicht warten, bis jemand etwas für mich tut, sondern konkret darum bitten.

Und die Kirsche auf der Sahne war für mich, dass zwei Mitpatientinnen kurz darauf ebenfalls eine #giggelchemo für sich initiierten, sprich: Die Idee pflanzte sich fort.

Familie Bauchfellfloh wurde übrigens erfolgreich vor die Tür gesetzt. Die Bagage hat jetzt endgültig Hausverbot! Zusätzlich habe ich mir „Leon“ engagiert, mein neues Medikament Niraparib, das mir die flohfreie Zeit verlängern soll. Leon ist Profikiller und Türsteher in einem; er soll verhindern, dass Flohkati und Flohrian wieder in mein Unterstübchen hineinschlüpfen, um dort ihr Lotterleben fortzusetzen.

Jedenfalls habe ich meinen Ball wieder ganz weit ins (Lebens)Feld hineingeworfen. Sollte er irgendwann wieder ins Aus geraten, weiß ich, wie ich die Zeit auf der Ersatzbank gut rumbekomme.

Doch jetzt spiele ich erstmal ganz lange mit!


Dies ist mein Beitrag zum Literaturwettbewerb der Stiftung Eierstockkrebs zum Thema „Lebensfreude“. Ich bin damit in die Finalrunde unter die Top 15 gewählt worden, von insgesamt ca. 130 Einsendungen – zusammen mit Onkobitch, einer bloggenden Mitpatientin. Ihren wunderbaren Beitrag zum Wettbewerb gibt es hier zu lesen: Lebensfreude: Wie ein Chamäleon am seidenen Faden

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