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Sich im Internet outen – ja oder nein?

„Ernsthaft krank geworden und darüber bloggen? 5 Fragen, die ich mir stellen würde.“

Diesen Artikel der Schreibnudel Gitte Härter musste ich natürlich sofort lesen. Denn ich hatte es ja getan! Ich habe mich unwiederbringlich im Internet geoutet. Was ist, wenn ich das jetzt nach dem Lesen des Artikels bereue?

Ich also herzklopfend und tapfer den Artikel gelesen. Puh. Die Fragen haben es ganz schön in sich…

Da mein „Outing“ nun schon ein paar Wochen her ist, kann ich ja mal gucken, wie ich die Fragen heute – also mit meinem mehrmonatigen Erfahrungsschatz – beantworten würde:

Frage 1:
Wen möchte ich in dieses sehr persönliche Thema einweihen?

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Gute Frage. Ich ging da „ringweise“ vor, so, als wenn ein Stein ins Wasser plumpst und die Wasserringe sich immer weiter ausbreiten. Im inneren Ring waren zunächst nur meine engsten Freunde und Verwandten.

Als ich immer mehr Termine absagen musste, habe ich einzelne Kunden dahingehend eingeweiht, dass ich „längere Zeit für meine Genesung brauche“. Deren Kopfkino war natürlich fleißig am Flimmern…

Mich erreichten bald über die sozialen Netzwerke, besonders Facebook, besorgte Nachfragen, warum man denn nichts mehr von mir lesen würde? Ich ging die erste Zeit gar nicht drauf ein. Irgendwann hat das aber die nächste Stufe gezündet: Ich habe den nächsten Ring eingeweiht: ganz enge Freunde, Kollegen und Bekannte auf Facebook.

Und dann, Wochen später, war ich es so leid, ständig „drumherum“ schreiben zu müssen, da hab ich dann die Katze in „Ring 3“ aus dem Sack gelassen – einem eingeschränkten Kreis von Kunden und Facebook-Kontakten.

Als dann noch eine Interviewanfrage zum Thema konkret wurde, hab ich mir gesagt: „Was soll’s, jetzt wissen es eh schon so viele Menschen, jetzt kann ich auch mal öffentlich darüber sprechen.“

Und als letzten Schritt habe ich hier im Blog einen Artikel dazu geschrieben. Das war wohl mein endgültiges Outing.

Bei jedem Ring bzw. jeder Stufe hatte ich enormen Bammel. Aber hinterher war einfach alles besser.

Frage 2:
Ist es gut für mich, wenn ich das, was mich gerade bewegt/beeinträchtigt/
umtreibt, öffentlich mache?

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Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es schlecht für mich war. Auch sind mir keine Kunden abgesprungen – im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass jetzt noch mehr meiner Lieblingskunden anfragen.

Egal, wann welcher Kreis eingeweiht wurde, es gab keine „Komplikationen“.

Frage 3:
Warum möchte ich mich „outen“?

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Diese Frage habe ich mir tatsächlich auch schon oft gestellt, warum will ich das eigentlich?

Ich glaube, dass das sehr viel mit meinen Eltern zu tun hat. Die haben nämlich überhaupt nicht gern offen über solche Sachen geredet. Nicht einmal innerhalb unserer kleinen Familie. Unangenehme Dinge wie Trauer, Krankheit und Konflikte, wurden bei uns nach Möglichkeit schön unter den Teppich gekehrt.

Das hat mich damals sehr belastet.

Wahrscheinlich ist meine Offenheit ein kleiner rebellischer Akt meinen Eltern gegenüber, die sich im Grabe umdrehen würden, wenn sie das wüssten… denke ich jedenfalls. Aber vielleicht sind sie auch froh, dass ich es anders mache.

Zudem habe ich wahnsinnig gute Erfahrungen damit gemacht, damals – als meine Eltern starben – offen mit meiner Trauer umzugehen. Das hat mich ermutigt, das auch in Bezug auf meine Erkrankung zu machen.

Frage 4:
Bin ich bereit für die Reaktionen, die kommen?

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Ja, das halte ich für die alles entscheidende Frage. Und in der jeweiligen Phase oder Stufe war ich bereit und auf alles gefasst. Sich diese Frage ehrlich zu beantworten, ist ganz wichtig für eine gute Selbstfürsorge.

Alle die von der Schreibnudel geschilderten Reaktionen habe ich bekommen, ich führe sie hier nochmal auf und schreibe kurz was dazu:

Betroffenheit
Oh ja, die war – besonders zu Beginn – fast körperlich zu spüren. Die Leute waren mindestens so geschockt, wie ich selbst.

Zuspruch
Ganz viel habe ich davon bekommen und es reißt nicht ab. Zuspruch tut mir einfach gut.

Ängste und Verzweiflung, die mit mir oder mit der anderen Person zu tun haben
Klar, wenn jemand im Umfeld ernsthaft erkrankt, bekommen viele Angst – nicht nur um den Betroffenen, sondern um sich selbst. „Ich müsste eigentlich auch mal wieder zur Vorsorge gehen.“, „Hoffentlich kriege ich nicht mal irgendwann … (hier bitte jeweilige Krankheit einfügen).“ Oder „Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mit der Situation umgehen oder was ich sagen soll.“

Interessierte und besorgte Nachfragen
Die besorgten Nachfragen sind menschlich, die interessierten finde ich toll! Indem sich jemand z. B. dafür interessiert, wie lange so eine Chemo eigentlich dauert, fühle ich mich gesehen und kann darüber berichten.

Wie-geht’s-dir-denn-Fragen
Viele chronisch Erkrankte ärgern sich über diese Fragen, nach dem Motto „Wie soll es mir schon mit XY gehen?“ oder weil sie nicht ständig darauf antworten mögen.

Ich finde diese Fragen gut, und wenn es mir mal zu viele auf einmal sind, mache ich einen kurzen Post und alle wissen Bescheid, was gerade so los ist. Voll praktisch. :o)

Eigene Krankheitsgeschichten oder Miterlebtes, das gut ausgegangen ist – oder Horrorgeschichten
Da bin ich echt froh, dass mir Horrorgeschichten bisher erspart geblieben sind. Mir werden dankenswerterweise tröstlichere Geschichten erzählt.

Ferndiagnosen
Ja, die gab es auch. Und die nerven echt! So nach dem Motto „Hast du schon einmal drüber nachgedacht, was die Erkrankung ausgelöst haben könnte? Das liegt bestimmt daran, dass du so viel…“ Leichtfertig werden Rückschlüsse gezogen, bei denen einem die Haare zu Berge stehen. Sowas ist doof.

Darüber hat Michaela Schara mal ganz vorzüglich gebloggt.

Ernährungstipps
Die gehen mir auch ohne Erkrankung total auf den Keks. Ja, die habe ich auch bekommen, aber ich konnte damit ganz gut umgehen. Aber mögen tue ich sie nur, wenn ich darum bitte.

Schulmedizinische und homöopathische Empfehlungen
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man tatsächlich sehr obskures Heilungsgedöns angeboten bekommt. Aber damit kann ich ganz gut umgehen – ich probiere eh nur das aus, was mir sympathisch und valide erscheint.

Verhaltenstipps
Hm, habe ich die bekommen? Oh doch, ja, stimmt, die waren auch dabei. Aber nix Schlimmes, an das ich mich jetzt konkret erinnere.

Durchhalteparolen
Ja, die bekomme ich sehr häufig. Und manchmal fühle ich mich davon auch unter Druck gesetzt. „Du schaffst das!“ Und was, wenn nicht? Habe ich dann versagt? Aber sie sind ja lieb gemeint, da bin ich nicht so streng. ;o)

Mitleid
Keine Ahnung, ob ich Mitleid bekomme. „Du tust mir so leid.“ kommt mir als Aussage aber irgendwie bekannt vor. Mitgefühl fühlt sich jedenfalls besser an. ;o)

Was ich noch an Reaktionen bekomme und sehr schätze:

  • Gedrückte Daumen und Pfoten
  • Mitfiebern (vor Untersuchungen)
  • Mitfreude (nach Untersuchungen)
  • Ermutigungen
  • Erheiterungen
  • Postkarten
  • Kleine Geschenke und Glücksbringer
  • Leckereien
  • Wirklich hilfreiche Tipps
  • Aktive Hilfe und Unterstützung (z. B. mit zu Untersuchungen gehen, etwas für mich recherchieren, einen Kontakt herstellen)

Frage 5:
Habe ich Kraft, Lust und Zeit, auf Nachrichten zu antworten?


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Mal ja, mal nein. Wenn mir gerade nicht danach ist, sage bzw. schreibe ich das meistens.

Angerufen werde ich überhaupt nicht gern. Beim Telefonieren fühle ich mich so „überfahren“. Sich zum Telefonieren verabreden geht schon eher.

Ich finde es total schön, wenn mir kleine Nachrichten geschickt werden: per SMS, Messenger oder E-Mail. Oder als Postkarte, so wie hier. Das finde ich richtig toll!

Fazit:
Ich würde es wieder tun.

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Mit meiner Erkrankung bin ich eh aus der Normalität gefallen.

Indem ich offen damit umgehe, erhöhe ich doch die Chancen auf richtig gute und wertvolle Erfahrungen. Meine Mitmenschen müssen nicht verlegen um den heißen Brei reden, ich muss mich nicht ständig verstecken.

Das ist doch wunderbar!

Und darüber hinaus habe ich richtig prima Vorbilder, die ebenfalls ganz offen mit ihren Erkrankungen umgehen und ganz tolle Blogs führen:

Lieber Herr Crohn: Briefe aus dem Leben mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung

Der Spielverderber: Ein Blog zum pathologischen Glücksspiel

PS.
Und ich habe mir vorab auch zwei meiner Lieblingsfragen gestellt – nämlich diese:

Was bringt es mir im besten Fall, wenn ich mich „oute“?
Was schadet es mir im schlechtesten Fall, wenn ich mich „oute“?

Gleich weiterstöbern:

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5 Kommentare zu “Sich im Internet outen – ja oder nein?”

  1. Danke dir, du WUNDERBARE DU! – Fürs Verlinken, aber mehr noch fürs darüber Schreiben, in jeder Form. Und deine Zeichnungen-Comics dazu sind ja sowieso der Oberhammer :)
    Dicke Umarmung von einer, die dich gut, sehr gut versteht!

    1. Ich habe zu danken, liebe Mia!

      Mit dir an meiner Seite – wenn auch bisher „nur“ virtuell – fühle ich mich viel sicherer und voll gut verstanden.

      Ich finde deinen eigenen Beitrag einfach saucool! Der rüttelt so richtig schön auf.

      Liebe Grüße

  2. Silke Bicker sagt:

    Liebe Sabine Dinkel,

    ich finde Dich sehr, sehr mutig und wünsche Dir alles erdenklich Gute! Die Teilnahme am „Postkartenflashmob“ tat übrigens gut und wunderbar, wenn die Post genau dies auch bei Dir bewirkt. Sich zu outen, ist mutig, denn man weiß nie vorher, welche Reaktionen kommen und wie man selbst darauf reagiert. Deswegen finde ich Deine Erweiterungskreise brilliant gelöst.

    Herzliche Grüße
    Silke

    1. Liebe Silke,
      lieben Dank für deine unterstützenden Worte und dass du Teil des Postkartenflashmobs warst.
      Das bedeutet mir sehr viel.
      Herzliche Grüße
      Sabine

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